Allergieprävention und Formula

Zufüttern von Formula als Maßnahme zur Allergieprävention? Eine Stellungnahme
von Utta Reich-Schottky   Literaturbelege als Endnoten

Allergieprävention ist ein komplexes Gebiet und die Empfehlungen dazu ändern sich immer wieder. 
Zur Zeit wird von manchen Seiten propagiert, nach einer Zufütterung mit kuhmilchbasierter Formula in den ersten Tagen nach der Geburt weiterhin täglich eine kleine Menge Formula zuzufüttern, um einer späteren Kuhmilchallergie vorzubeugen1.  

Hier gilt es allerdings, das ganze Bild zu betrachten.

  1. Ausschließliches Stillen ist die biologische Grundlage.

Ausschließliches Stillen während der ersten 6 Monate hat erhebliche Bedeutung für die kurz- und langfristige Gesundheit sowohl der Mutter als auch des Kindes sowie für die Entwicklung des Kindes. Gesunde, reife Neugeborene brauchen in der Regel nur Muttermilch. Mutter und Kind sollten beim Stillen angemessen unterstützt werden.3 Bei jeder Zufütterung sollte die Indikation sorgfältig gestellt und Vorteile und Risiken abgewogen werden.3 In den ersten Tagen nach der Geburt sollte bei Stillwunsch der Mutter eine Zufütterung mit kuhmilchbasierter Formula vermieden werden, um einer Kuhmilchallergie vorzubeugen.4

  1. Kuhmilchallergie bei Kindern

Kuhmilchallergie wird häufig vermutet, aber nur selten diagnostisch bestätigt.5 Im Säuglings- und Kleinkindalter tritt sie häufiger auf und bildet sich bei einem großen Teil der Betroffenen innerhalb weniger Jahre zurück.5 In Deutschland tritt sie bei 0,3 % der Kinder auf und verschwindet bei knapp 70% der betroffenen Kinder innerhalb eines Jahres.6 Das heißt, ca. 0,1 % aller Kinder haben für längere Zeit eine Kuhmilchallergie, also rund 1 von 1000 Kindern.

Zur Allergieprophylaxe ist es grundsätzlich sinnvoll, Allergene nach der Einführung regelmäßig zu geben. Dadurch sinkt das Risiko einer Allergie. Das konnte mehrfach gezeigt werden, wobei die Risikosenkung mal größer und mal kleiner war. 

Angenommen, das Risiko für eine anhaltende Kuhmilchallergie könnte durch Weiterführung einer Zufütterung mit Formula im ersten halben Jahr um 50% gesenkt werden. Dann wären in Deutschland noch 0,5 statt 1 von 1000 Kindern betroffen. Bei routinemäßiger Zufütterung von 1000 gestillten Kindern würden 999 Kinder nur die Nachteile der Zufütterung erleben. 0-1 von 1000 Kindern hätten neben den Nachteilen der Zufütterung noch den Vorteil, keine länger anhaltende Kuhmilchallergie zu bekommen. Und auch bei ihnen wäre zu fragen, ob dieser Vorteil die Nachteile aufwiegt.7
Selbst wenn die Zahl der von Kuhmilchallergie Betroffenen 10 Mal so hoch wäre, würden von 1000 Kindern immer noch 995 Kinder ohne jeden Nutzen zugefüttert, und höchstens 5 Kinder hätten neben allen Nachteilen des Zufütterns den Vorteil, keine anhaltende Kuhmilchallergie zu bekommen.

  1. Einmal Formula, immer Formula?

Die weitere Gabe von Formula verhindert dauerhaft ausschließliches Stillen. 
Bei regelmäßiger Gabe von Formula ist gegenüber ausschließlichem Stillen das Risiko unter anderem für Atemwegserkrankungen erhöht, und möglicherweise auch das Risiko für andere Allergien wie Asthma. Da Asthma im Gegensatz zu Kuhmilchallergie nicht selbstlimitierend ist, hätte das deutlich negativere Auswirkungen.7 

Regelmäßiges Zufüttern erhöht das Risiko für vorzeitiges Abstillen.7 Mit dem Abstillen entfällt der weitere Gesundheitsschutz des Stillens. Auch das Mikrobiom im kindlichen Magen-Darm-Trakt wird durch Formulafütterung beeinträchtigt.8 
Weder die AutorInnen der deutschen Leitlinie zur Allergieprävention noch das Ernährungskomittee der französischen Gesellschaft für Pädiatrie empfehlen dauerhaftes Zufüttern.4 & 7 

  1. Formula in den ersten Tagen vermeiden

Leider ist es gängige Praxis, dass viele Neugeborene zugefüttert werden. Das ist ein Strukturproblem. Bei guten Routinen und Vorgehensweisen reicht bei den meisten gesunden, reifen Neugeborenen die Muttermilch aus.3 In Babyfreundlichen Kliniken ist der Bedarf an Zufütterung von anderer Nahrung gering.9 

Wenn in den Tagen nach der Geburt keine Formula zugefüttert wird, erübrigt sich die Frage, ob das Zufüttern fortzusetzen sei. Mögliches Vorgehen ist hier:

⇒ vorrangig den Bedarf an zusätzlicher Nahrung verringern.

Förderliche Vorgehensweisen sind:10 & 11 

  • Unmittelbarer und ungestörter Hautkontakt gleich nach der Geburt, viel Hautkontakt in den darauf folgenden Tagen.
  • Die Reflexe des Neugeborenen zum Stillen in der zurückgelehnten Stillhaltung wirksam werden lassen.
  • Häufiges Stillen ab Geburt, mind. 8-12 Mal in 24 Stunden.
  • Bei Bedarf frühzeitig und häufig Kolostrum gewinnen und füttern.
  • Jedes Neugeborenes sollte bereits im Kreißsaal stillen oder Kolostrum bekommen.

⇒ verbleibende Lücke durch Frauenmilch schließen.

WHO und UNICEF sind sich einig: Wenn keine oder nicht genügend Muttermilch zur Verfügung steht, ist Spenderinnenmilch die bestmögliche Wahl.12 
Genügend Frauenmilch bereit zu stellen ist möglich. Dafür braucht es entsprechende Versorgungsstrukturen. Die Frauenmilchbanken in Deutschland können den Bedarf zur Zeit noch nicht decken und müssen deshalb weiter ausgebaut werden.

  1. Formula füttern – das Ziel der Babynahrungsindustrie13

Wer profitiert von der Empfehlung, täglich Formula zu füttern? Vielleicht einige wenige Säuglinge. Auf jeden Fall profitiert die Babynahrungsindustrie. Sie setzt große Summen und verschiedenste Methoden ein, um das Stillen zu untergraben und den Absatz von Formula und anderen Muttermilchersatzprodukten zu steigern.

Um für sie günstige Studienergebnisse zu erhalten, finanziert sie Studien und daran beteiligte WissenschaftlerInnen.

Sie beeinflusst die Wahrnehmung und die Interpretation von Studienergebnissen. Beispiel: Der Review von Ulfman et al. 2022 enthält die Empfehlung, für die Allergieprävention früh und kontinuierlich Kuhmilchprotein/Formula zuzufüttern. Der Hauptautor und ein weiterer Autor sind Angestellte von FrieslandCampina. Diese Firma ist „stolz auf ihre globale Führungsrolle in der Babynahrungsindustrie“ (FrieslandCampina).

Durch Beziehungspflege und Sponsoring, insbesondere von Fortbildungen, gewinnt die Industrie das Wohlwollen von medizinischen Fachkräften.

Eltern werden zunehmend über die sozialen Medien angesprochen. Häufig nutzt die Industrie dafür bezahlte Influencerinnen und medizinische Fachpersonen.

Die Babynahrungsindustrie nutzt aus, dass unzureichende Stillunterstützung zu Stillproblemen und zu wahrgenommenem oder tatsächlichem Milchmangel führt. Sie suggeriert, dass ihre Produkte die passende Lösung für Stillprobleme seien. Tatsächlich stillfreundliche Lösungen geraten aus dem Blickfeld. Diskutiert wird darüber, Formula vielleicht kontinuierlich zu füttern, statt darüber, wie die Versorgung mit Muttermilch verbessert werden kann.

  1. Was tun? 13-15 

Die Einflussnahme der Babynahrungsindustrie muss überall sichtbar gemacht und zurückgedrängt werden: in der Politik, in der Wissenschaft, im Gesundheitssystem und in Elterninformationen. 
Interessenkonflikte bei Fachpersonen, in Berufsverbänden und in politischen Gremien müssen benannt und verhindert werden.
Unzureichende Stillunterstützung führt zu Stillproblemen, zum Zufüttern und Abstillen. Damit wird der Verkauf von Formula gefördert. Stillfreundliche Strukturen im Gesundheitssystem und in der Gesellschaft sind nötig, um dies zu verhindern.

Eltern sollen ihren Stillwunsch umsetzen können, ohne dass ihnen Knüppel zwischen die Beine geworfen werden.


Belege der Fachliteratur: 1: Abrams et al. 2023, Ulfman et al. 2022; 2: Victora et al. 2016, Meek et al. 2022; 3: ABM 2017; 4: Allergieleitlinie 2022; 5: Fiocchi et al. 2010; 6: Schoemaker et al. 2015; 7: Dupont et al. 2023; 8: Martínez-Martínez et al. 2024; 9: Reich-Schottky 2017; 10: NSF 2022; 11: WHO/UNICEF Initiative Babyfreundlich 2023; 12: WHO/UNICEF 2003; 13: Rollins et al. 2023; 14: Baker et al. 2023; 15: NSF 2023

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